In : Bericht des Seminars zum Theama "Praticien-Chercheur" veranstaltet vom 10.-11. November 1994 in Aarau.


 
 
 

 

Die Annäherung von Forschung und Praxis :
ein notwendiges Uebel ?

 

 Monica Gather Thurler

 1994


1. Lang dauernde Kooperation und gegenseitige Familiarisierung

2. Einige notwendige Haltungsveränderungen bei Forschern und Praktikern

3. Entwicklung von Forschungskompetenzen im Bereich der Lehreraus- als auch die Fortbildung

4. Ein anderer Bezug zur Forschung

5. Ein übertragbares Verhaltensparadigma

6. Zum Schluss: einige Nachteile und Hürden zum weiteren Nachdenken

Literatur


Die Aufgabe von hauptberuflichen Forschern im Bereich Erziehungswissenschaft besteht darin, im Rahmen einer bestehenden Wissenschaftsdisziplin neues, gültiges, organisiertes und übergebbares Wissen zu beschaffen, zu konstruieren.

Die Lehrer haben eine andere Berufung. Nur eine Minderheit der Lehrer werden im Verlauf ihrer Berufskarriere intensiv an wissenschaftlicher Forschung beteiligt sein, und eine sehr kleine Minderheit wird auf die Dauer oder auf eine beschränkte Zeit als forschende Lehrer tätig sein. Wenn auch die Zahl forschender Lehrer ständig steigt, so stellt sich dennoch die Frage: lohnt es sich tatsächlich, alle Lehrer im Rahmen ihrer Grundaus- und Fortbildung in die Praxis der Forschung einzuführen?

Der Graben zwischen den beiden Welten wissenschaftliche Forschung und Praxis ist schon seit langem ein stark umstrittenes Problem. Im Allgemeinen geben sich die Betroffenen damit zufrieden, der anderen Seite die Verantwortung für den fehlenden Dialog in die Schuhe zu schieben. Die Forscher unterstreichen den Vorteil ihres rationellen und objektiven Vorgehens, die Notwendigkeit, neue Ansätze und Ideologien zu konstruieren und zu überprüfen, die pädagogische Praxis durch ihren Beitrag zu bereichern, die Schule zu einer grösseren Kohärenz zwischen Zielsetzungen und Umsetzung zu führen, ihre Fähigkeit zu entwickeln, die gestellten Probleme mit einem gewissen Professionalismus anzugehen. Die Forscher drücken oft ihr Bedauern darüber aus, dass die Lehrer oder Schulbehörden zu oft in Eile, zu "oberflächlich" sind, zu handlungsorientiert sind, zu wenig zum Nachdenken bereit, wenig Bereitschaft zeigen, ihre Entscheidungen und oft in Anbetracht der Komplexität des Umfelds stark vereinfachenden Lösungsansätze wissenschaftlich rigoros zu überprüfen und zu überdenken.

Die Praktiker ihrerseits - ob es sich nun ob die Lehrerinnen oder Angehörigen der Schulbehörden handelt - definieren sich als Pragmatiker, die gezwungen sind tagtäglich eine Unmenge von Problemen zu lösen, laufend mit einer sich ständig verändernden Realität konfrontiert sind, gezwungen sind, ihre Schülern, deren Eltern, die Ansprüche des Lehrplans, der Stundenpläne, der begrenzten Räumlichkeiten und materiellen und menschlichen Ressourcen auf einen Nenner zu bringen. In diesem Anspruch fühlen sie sich nur unzureichend von den Forschern unterstützt, die sie manchmal als zuwenig qualifiziert, informiert oder sogar ganz einfach zu naiv, in ihrem Jargon befangen, mit unrealistischen Problemdefinitionen beschäftigt und wenig interessiert an den eigentlichen Praxisproblemen wahrnehmen.

Seit den 70iger Jahren wurden unzählige Anstrengungen unternommen, um diesen Abstand zwischen "Praktikern" und "Forschern" zu überwinden. Es hat keinen Sinn, die Tatsache zu übersehen, dass dieser Abstand auf einer reellen Arbeitsaufteilung beruht: die Praktiker sind an einzelnen Fallbeispielen und an entsprechenden stark bedürfnisorientierten, möglichst wirksamen und fallspezifischen Lösungsmöglichkeiten interessiert. Die Forscher ihrerseits nehmen die Fallbeispiele zum Anlass, um eher generelle Modelle und Theorien zu entwickeln und zu überprüfen. Die einen fragen sich: "wie soll ich in meiner Praxis handeln?", die anderen fragen sich: "wie funktioniert die Praxis?". Diese beiden Fragenansätze sind nicht unvereinbar. Unter bestimmten Voraussetzen können beide sogar sehr gut miteinander verbunden werden: wissenschaftlich erarbeitetes Wissen kann die Grundlage bilden für besseres und wirksameres Handeln in konkreten Problemsituationen. Ihrerseits kann aus der Praxis heraus und aufgrund von spezifischen Problemsituationen entstandenes Wissen die Grundlage für das Erarbeiten genereller Funktionsmechanismen bilden.

Kurzfristig scheinen jedoch beide Ansätze eher gegensätzlich zu sein. Während der eine der Lehrperson dazu dient, ihr soziales Universum besser zu beherrschen - z.B. ihre Klasse, bestimmte spezifische Probleme mit Schülern und deren Eltern zu lösen - um somit besser ihr pädagogischen Ziele umsetzen zu können, versucht der andere, dieses Universum zu beobachten und zu analysieren, um seine Funktionsweise zu erklären, und um den Transfer auf andere pädagogische Handlungsfelder zu erleichtern und um allgemeingültige Handlungsmuster herzustellen.

Die Vertreter beider Ansätze bleiben überzeugt, dass sie im guten Recht sein, dass ihre Art und Weise, die Probleme anzugehen, die wirksamste ist, um die Schule zu verbessern und wirksamer zu gestalten. Beide bleiben zum Teil in der Sichtweise der tayloristischen Arbeitsaufteilung befangen, in einem Denk- und Handlungsansatz, den sie ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Sozialisierung verdanken, in einer Realität, mit der sie tagtäglich konfrontiert sind. Wie kann sich ein Forscher, der zum nächsten Tag einen Beitrag für eine wissenschaftliche Zeitschrift verfassen muss, oder der damit beschäftigt ist, 50 Seiten von Notizen von Interviews und Beobachtungen zu transkribieren an die Stelle des Praktikers versetzen, der sich mit einer Klasse von Schülern konfrontiert sieht, die durch zwei ausländische Neukömmlinge durcheinandergeraten ist, die kein Wort deutsch sprechen, oder der gerade bemerkt hat, dass zwei wesentliche Inhalte, an denen während der ganzen letzten Woche intensiv gearbeitet wurden, vom Grossteil der Schüler nicht verstanden worden sind? Und umgekehrt: wie ist es möglich, diese Kluft zu überbrücken, eine andere Perspektive - die des anderen - einzunehmen? Wie ist es möglich, eine gemeinsame Sichtweise der Schule zu entwickeln, die Unterschiede anzuerkennen, ohne dass dies in Ablehnung, Fluchtverhalten und unzulässig überhebliches Verhalten bzw. unnötige Minderwertigkeitskomplexe auf beiden Seiten ausartet?

Verschiedene Forschungsergebnisse (Huberman & Gather Thurler, 1991, Gather Thurler, 1993 b) weisen darauf hin, dass die Antwort auf die vorhergehenden Fragen zugleich einfach und komplex sind: eine gemeinsame Sichtweise der Schule kann nicht einfach deklariert werden. Sie muss konstruiert, ausgehandelt werden. Sie entsteht 1. im Rahmen einer langdauernden Kooperation und gegenseitigen Familiarisierung; 2. unter der Bedingung, dass sowohl die Forscher als auch die Praktiker dazu bereit sind, bestimmte Haltungen zu verändern; 3. unter der Bedingung, dass sich sowohl die Lehreraus- als auch die Fortbildung vermehrt auf die Entwicklung von Forschungskompetenzen ausrichtet.

 

1. Lang dauernde Kooperation und gegenseitige Familiarisierung

Unter den möglichen Kooperationsformen möchte ich rasch drei der bekanntesten Ansätze untersuchen. Ohne detailliert auf jeden diesen Ansätze einzugehen, möchte ich den folgenden roten Faden vorschlagen: Kooperation wird dort zum Misserfolg, wo die verschiedenen Akteure nicht genügend ihre Erwartungen, ihre Bedürfnisse, verschiedenartigen Zielsetzungen geklärt habe, wo sie sich nicht genügend Zeit zum Zuhören genommen haben.

1.1 Umsetzung und Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse in der Praxis

Die "Umsetzung und Implementation wissenschaftlicher Ergebnisse in der Praxis" stellt nun bereits seit ungefähr 35 Jahren einen zwar klar umrissenen, aber immer noch umstrittenen Arbeitsbereich dar (Havelock, 1969, Huberman, 1987).

Zwar kann man sich inzwischen auf eine Reihe von klar erwiesenen Zusammenhängen abstützen, wie z.B. die zunehmende Aufnahmebereitschaft der Anwender (2) jenen Forschungsergebnissen gegenüber, die ihnen durch bereits gut bekannte Personen vermittelt werden. Trotzdem gehen aber heute noch die Meinungen sehr stark auseinander, was die Handlungskonsequenzen für eine klar umrissene Umsetzungspolitik betrifft. Sie hängen sehr stark vom jeweiligen Lern- bzw. Denkmodell ab, d.h. davon, ob man Verhaltensveränderungen von aussen durch gezielte und belehrende Erkenntnisvermittlung oder aber eher von innen im Sinne des "Abholens", durch gemeinsame, "transaktionelle" Erkenntniserarbeitung zu bewirken hofft.

Zieht man das gemeinsame Vorgehen vor, so wird man bald feststellen müssen, dass die Intensität der Interaktion, die "Vertrautheit" zwischen Vermittlern und Anwendern und die Qualität der persönlichen Beziehungen zwar mögliche, aber nicht unbedingt allgemeingültige Ausgangsbedingungen für die spätere Anwendung darstellen (siehe auch Shapiro, 1984). In diesem Fall wird es nicht zu vermeiden sein, dass sich der Forscher etwas gründlicher über die institutionellen Faktoren im Vermittlungs- und Anwendungsumfeld informiert, bzw. die Macht- und Einflussfaktoren zwischen den Betroffenen näher untersucht. Und dann zeigt sich auch, dass weder die eine noch die andere Perspektive für sich allein die Universallösung darstellt.

Wie in den übrigen Wissenschaftsbereichen auch hat hier in letzter Zeit ein wichtiger Paradigmawechsel stattgefunden. Vor allem die Arbeiten amerikanischer Forscher wie Weiss (1980) und Nisbett & Ross (1980) haben seit Beginn der 80iger Jahre zu einer Annäherung der "instrumentellen" und "transaktionellen" Sichtweise beigetragen. Die Erfahrung, dass Wissensvermittlung nach dem "Dosenöffnerprinzip" kaum zu ausschlaggebenden Ergebnissen führt, war hier ein wichtiger Auslöser. Darüber hinaus weisen aber auch neuere Forschungs-ergebnisse im Bereich der Sozialwahrnehmung darauf hin, wie unterschiedlich Information verarbeitet wird und wie weit sich nach erfolgter Umsetzung das End- vom Eingabeprodukt unterscheidet. So wird heute die regelmässig nachgewiesene Mischung aus Wahrnehmungs-verzerrungen und ohnehin unvermeidlichen rein kognitiven Missverständnissen für die weitgehend falschen Schlussfolgerungen verantwortlich gemacht, die Praktiker aus vorliegenden Forschungsergebnissen ziehen.

Diese Befunde wurden in letzter Zeit noch durch Ergebnisse aus der Organisationsforschung bestätigt, die sich an eher transaktionelle, bzw. sogar konflikttheoretische Modelle lehnen (Crozier and Friedberg, 1977; et al.): Anwender nehmen laufend Transformationen externer Inputs vor. Autoren wie Habermas (1973) und Young (1975) weisen ihrerseits darauf hin, dass die endgültige Umsetzung von Forschungsergebnissen oft in einer Weise erfolgt, die keineswegs den bisherigen Idealvorstellungen geltender Wissenschaftstheorien entspricht: so kann es vorkommen, dass die Praxis Forschungsergebnisse zu strategischen Zwecken, als "Schützenhilfe" verwendet, was natürlich ebenfalls zu mehr oder weniger schwerwiegenden Verzerrungen und in manchen Fällen sogar dazu führt, dass im Nachhinein das gesamte Forschungsprojekt als ungültig verworfen wird.

Folglich wird hier die Aufgabenstellung für die Umsetzung noch komplexer. Es geht nicht nur darum, die künftigen Anwender vom Praxisbezug der neuen Forschungsergebnisse zu überzeugen, sondern auch darum, gemeinsam mit ihnen die notwenigen Schritte für eine wirksame Praxisveränderung zu überprüfen. Bis hierhin werden unsere Ausführungen wohl kaum auf Widerstände beim Leser gestossen sein. Viel problematischer wird es, wenn wir noch dazu die Behauptung aufstellen, dass die hauptsächliche Verantwortung für die Umsetzung bei den Forschern liegt. Natürlich wird es hier sofort heissen, dass Umsetzung zuviel Aufwand bedeutet, dass sie unvermeidlich zu Lasten der Forschungsqualität geht, dass Forscher für diese Aufgabe schlicht und einfach nicht zuständig bzw. nicht kompetent sind. Unter diesen Voraussetzungen wird die geforderte Umsetzung eher als Strafarbeit empfunden, deren man sich dann dementsprechend entledigt. Im Gegensatz dazu kann Umsetzung aber auch als selbstverständliche Dienstleistung verstanden werden. Die Frage lautet dann, unter welchen Voraussetzungen Forscher bereit und fähig sind, Umsetzungsbemühungen zu unternehmen, die in der Folgezeit konzeptuelle und instrumentelle Wirkungen in der Praxis auslösen.

Zur Beantwortung dieser Frage haben wir im Rahmen der vorliegenden Untersuchung sowohl den instrumentalistischen als auch den transaktionellen Ansatz, die uns beide gleich gültig, aber auch aufgrund der empirischen Befunde stark miteinander verflochten erschienen, in ein einziges Modell integriert. Wir waren somit in der Lage, sowohl die direkten und indirekten, als auch die konzeptuellen und instrumentellen Wirkungen der verschiedenen Umsetzungsmassnahmen, ihren Einfluss auf individuelle und institutionnelle Entscheidungen und Handlungen und nicht zuletzt auch ihre "perversen" Wirkungen (Verzerrung bzw. Vereinfachung der Projektresultate und Datenmissbrauch) zu überprüfen.

1.1.1. Einige Methodenhinweise

Zur Untersuchung dieser Fragen haben wir neben dem sog. "Hauptmodell" mehrere Arbeitsmodelle zur genaueren Analyse der verschiedenen Teilaspekte der Umsetzungs-problematik entwickelt (3). Das Arbeitsmodell "Umsetzungsbemühungen" (Fig. 1, siehe nächste Seite), mit dem wir uns im folgenden ausführlich befassen werden, enthält eine detaillierte Darstellung der untersuchten Variablen, die sich im Rahmen früherer Umsetzungsstudien (z.B.Glaser et al., 1983) als wichtige, wenn auch nicht ausschliessliche Bestimmungsfaktoren erwiesen haben. Im ersten Kasten sind unter der Bezeichung "Forscherkontext" u.A. die charakteristischen Merkmale der Studie, das Vorhandensein einer Umsetzungsstrategie, die Priorität des Praxisbezugs und die Anwenderzentrierung aufgeführt. Insbesondere im Kasten "Anwenderzentrierung" befinden sich eine Reihe von Faktoren, für die bereits vorliegende Untersuchungen auf sehr hohe Korrelationswerte mit den konzeptuellen und instrumentellen Auswirkungen hinweisen.

 

 

 

 Die Merkmale, die in der Kategorie "Beziehungsmechanismen" zusammengefasst sind, üben einen bestimmenden Einfluss auf die spätere Projektwirkung aus. Allerdings kommt eine wirksame Zusammenarbeit zwischen Forschern und Praktikern nur dort zustande, wo auf beiden Seiten die notwendigen Bedingungen vorhanden sind. Ist dies der Fall, dann schaffen die geknüpften Kontakte eine "Betroffenheit", die als eines der wirksamsten Innovationselemente bezeichnet werden kann.

Die Anwendungsprädiktoren ihrerseits setzen sich aus einer Reihe wichtiger Variablen zusammen, die je nach Zielpublikum sehr unterschiedliche "clusters" ergeben. So ist z.B. in gewissen Zielgruppen, die sich Forschungsergebnissen gegenüber eher ablehnend verhalten, sowohl mangelndes Resultatverständnis als auch hohe Uebereinstimmung mit geltenden Meinungen die Regel. Andere Zielgruppen wiederum sind trotz mangelhaftem Resultatverständnis von der Validität der Studie überzeugt und auf dieser Basis durchaus bereit, beträchtliche Mittel für eine langfristige Umsetzung einzusetzen. Weiter können strategisch motivierte Wahrnehmungsverzerrungen zu starken instrumentellen Wirkungen führen - ein Umstand, der Forscher manchmal stark belastet. Allerdings wurde aber auch wieder mit gleicher Häufigkeit nachgewiesen, dass wirksame Umsetzung auf differenziertem Problem-bewusstsein, gutem Resultatverständnis, organisatorischer Offenheit und entsprechendem Zeit- und Ressourceneinsatz von seiten der Anwender beruht. Wie man sich gut vorstellen kann, sind hier die gemischten Konfigurationen in der Mehrzahl.

Das letzte Variablenpaket, die sog. "Umsetzungsbemühungen", stellen eine inzwischen gut bekannte Checkliste dar; dabei garantieren vor allem die unter der Kategorie "Umsetzungs-kompetenz" zusammengefassten Variablen die höchsten Korrelationswerte mit den Projekt-wirkungen.

1.1.2 Stichprobenauswahl und Datenerhebung

Ausgehend vom Hauptmodell und von den verschiedenen Arbeitsmodellen haben wir im Rahmen einer fallstudienorientierte "Tracer-study" elf Projekte (4) untersucht. Unsere Stichprobe umfasst den Grossteil der "wichtigsten" Projekte des EVA-Programms, deren Budget 200.000.- Fr. überstieg und in deren Rahmen Umsetzung stattgefunden hat. Im Verlauf unseres Ermittlungsverfahrens gingen wir bis 18 Monate nach Projektabschluss in den von den Hauptgesuchsstellern bestimmten Zielgruppen den "Spuren" des betreffenden Projekts nach. Die Datenerhebung erfolgte in mehreren aufeinanderfolgenden "Wellen", hauptsächlich anhand von zahlreichen Interviews und Beobachtungen, und wurde durch die Analyse vorliegender Dokumente vervollständigt. Die vorliegenden Daten wurden dann der qualitativen Forschungs-methode entsprechend (vgl. Douglas, 1976, Glaser, 1978, Lincoln und Guba, 1985, Huberman, 1983, Miles und Huberman, 1984) einem sehr sorgfältigen progressiven Verdichtungs- und induktiven Folgerungsprozess unterworfen. Dieses Vorgehen wurde im wissenschaftlichen Forschungsbericht (Huberman und Gather Thurler, 1988a) ausführlich dargestellt.

Sowohl für diese Uebersicht als auch für die folgende Ergebnisdarstellung gilt noch ein wichtiger Hinweis: Wir haben im Rahmen unserer Untersuchung zwischen "Projekten" und "Zielgruppen" bzw. "Fällen" unterschieden. Insgesamt haben die Hauptgesuchssteller der elf untersuchten Projekte 23 Zielgruppen bestimmt. Um die Anonymität der betroffenen Forscher und Anwender zu wahren, wurden die Projekte und die Zielgruppen neu benannt.

1.1.3. Die Umsetzungsbemühungen der EVA-Forscher

Ausgehend vom eingangs beschriebenen Modell "Umsetzungsbemühungen" haben wir als erstes die Forscher aufgefordert, die Zeit einzuschätzen, die sie, global gesehen und im Vergleich zur gesamten Projektdauer, für die Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in die Praxis investiert haben.

Für die Umsetzung investierter Zeitaufwand.

Aufgrund der stark variierenden Einschätzungen lassen sich drei Gruppen feststellen. Innerhalb der ersten "Gruppe" (5 Fälle) geben die Forscher an, dass sie 25-45% der gesamte Forschungszeit für die Umsetzung eingesetzt haben. In der zweiten "Gruppe" (5 Fälle) wurde "wenig Zeit" für Umsetzung aufgewendet. So meinen z.B. die Forscher des Projekts GREEN mit einer gewissen Selbstzufriedenheit, dass sie die eingesetzte Zeit durchaus optimal zu nutzen vermochten. Ganz anders tönt hier das Echo der Forscher im Fall von LAMANO-LA: der investierte Zeitaufwand ("...für unaufhörliche Diskussionen und mühsame Textüberarbeitungen...") wurde hier als "irrsinnig" empfunden. Die dritte und letzte "Gruppe" umfasst 3 Fälle. In den ersten beiden Fällen hatten die Forscher die Umsetzung in den Hintergrund verdrängt, bzw. geplant, sich erst nach Abschluss der Forschungsphase mit ihr zu befassen. Im Fall von LAMANO-NO hingegen handelt es sich um eine Umsetzung, die ohne zusätzliche Bemühungen von seiten der Forscher ablief.

Zeitaufwand für die verschiedenen Umsetzungsaktivitäten.

Die folgende Tabelle fasst die Schätzungen der Forscher inbezug auf den Zeitaufwand während den drei Phasen (vor, während und nach der Datenerhebung) des Forschungsprozesses zusammen:

 

Tabelle 1:
Zeitaufwand für Umsetzungsaktivitäten vor, während und nach der Datenerhebung. Modalwerte der von den
Forschergruppenvorgenommenen Einschätzungen. (N = 13) 

 

Grosser Zeitaufwand
Mehr Zeitaufwand bei Wiederholungdes Projekts
Anzahl Antworten
%
Anzahl
Antworten
%
vor der Datenerhebung
10
25.6%
9
23.0%
N möglicher Antworten:
39

 

 

 

während der Datenerhebung
19
20.8%
23
25.2%
N möglicher Antworten:
91

 

 

 

nach der Datenerhebung
30
38.5%
30
38.5%
N möglicher Antworten:
78

 

 

 

 Total
(N= 208) :

59
28.2%
62
29.8%

Gesamt gesehen haben die Forscher in 26% der Fälle viel Zeit für Umsetzungsaktivitäten vor der Datenerhebung eingesetzt, 23% würden diesen Zeiteinsatz im Falle einer Wiederholung des Projekts erhöhen. In 4 Forschergruppen wurde diese Zeit hauptsächlich der gemeinsamen Projektplanung mit den Anwender gewidmet; nach Meinung weiterer 4 Forschergruppen waren vor allem die Informationssitzungen zu Beginn des Projekts zeitaufwendig. Sichtlich wurde aber in dieser Projektphase Kontakten mit den möglichen Anwendern im allgemeinen wenig Bedeutung beigemessen.

ähnliches gilt auch für den Zeiteinsatz während der Datenerhebung: in 2 von 13 Fällen (15%) haben die Forschergruppen viel Zeit eingesetzt, um die zukünftige Umsetzung der Projektresultate gemeinsam mit den Anwendern zu planen. Die Mehrzahl der Forscher (62%) würde im Falle einer Wiederholung des Projekts für diese Aktivität mehr Zeit einplanen.

Verfügbarkeit der Mittel.

69% der Antwortenden bezeichneten die von der Projektleitung zur Verfügung gestellten Mittel als angemessen. In 3 von 15 Fällen wurde jedoch die materielle Unterstützung durch die Projektleitung als "problematisch" bezeichnet. Nach Meinung jener Forscher, die sich als "übervorteilt" empfanden, hat die Projektleitung den notwendigen Arbeits- und Zeitaufwand weit unterschätzt.

Vorhandensein einer Umsetzungsstrategie.

Im allgemeinen werden von den Forschern unternommene Umsetzungsbemühungen sowohl durch die anerkannte Priorität der Umsetzung, als auch durch das Vorhandensein einer Umsetzungsstrategie bestimmt.

Unter "Strategie" verstehen wir hier eine Reihe von Vorentscheidungen, die eine wichtige Grundlage für die zu leistende Umsetzung und deren späteren zeitlichen Ablauf darstellen: die Zielgruppenbestimmung, die möglichen Formen der Zusammenarbeit mit den Anwendern, die Schritte, die es während der verschiedenen Projektphasen zu unternehmen gilt und natürlich die vorgesehenen Umsetzungsprodukte. Auf dieser Basis werden dann auch die Verant-wortlichkeiten und die materiellen Bedürfnisse (Zeit und Geld) abzuklären.

Die untersuchten Projekte weisen natürlich kein einheitliches Vorgehen bei der Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse auf. Wir haben folglich als erstes die Haltung der Forschergruppen den Forderungen der Programmleitung gegenüber untersucht: wie reagierten diese zu Beginn und während des Projekts, als die Projektleitung immer ausdrücklicher von ihnen verlangte, ihren Umsetzungsplan vorzulegen? Die folgendeTabelle liefert einige Hinweise auf diese Frage.

 Tabelle 2 : Umsetzungsbemühungen der Forscher: 

Vorhandensein und Art der Strategie
Strategie
zu Beginn
unter Druck
durch die Programmleitung
formulierte Strategie
N Fälle
% Fälle
N Fälle
% Fälle
detailliert
1
0.7%
10
67.3%
global
8
53.0%
3
20.8%
vage
3
20.0%
1
6.6%
nicht vorhanden
3
20.3%
1
6.6%

Gesamt:

15
99.9%
15
99.9%
 

In einem Fall lag bereits zu Projektbeginn ein detaillierter Umsetzungsplan vor. In 8 Fällen bestand ein globaler Plan. In weiteren 3 Fällen hatten die Forscher die vage Absicht, nach dem "Giesskannenprinzip" möglichst vielen Anwendern ein relativ unverbindliches Angebot zu unterbreiten. In 3 Fällen wurde keinerlei Umsetzungsplanung unternommen.

Im Verlauf des Programms erreichten die Projektleitung und die Experten durch wiederholtes "Nachhaken", dass die Forschergruppen in 10 von 15 Fällen einen detaillierten und in 3 Fällen einen globalen Umsetzungsplan vorlegten, deren Effizienz sich allerdings in der Folgezeit als sehr unterschiedlich erwiesen hat. So haben unsere Beobachtungen ergeben, dass dieser unter folgenden Voraussetzungen ein wirkungsvolles und realistisches Planungs- und Führungs-instrument darstellte: wenn er (a) ausreichend anpassungsfähig und/oder vollständig war, um die verschiedenen Kontexte der Zielgruppen berücksichtigen zu können und (b) für die Forscher eine Art von Bezugsrahmen darstellte, der ihnen genügend Freiraum zugestand, um gemeinsam mit den Anwendern die notwendigen Anpassungen vorzunehmen.

Hierbei hat die Projektleitung die Forscher auf drei Ebenen unterstützt bzw. beeinflusst: (a) sie stellte den Forschern die Mittel zur Verfügung, damit sie ihre Produkte "verkaufen" konnten; (b) sie hielt die Forscher dazu an, sich Gedanken über die "Praxisrelevanz" ihrer Forschungsresultate zu machen; (c) sie unterstützte die Kontaktnahme mit den Anwendern.

Dort, wo die Forscher ihre Umsetzungsstrategie relativ frühzeitig festzulegen vermochten, kam die Priorität der Praxisbezogenheit klar zum Ausdruck; sowohl die Programmleitung als auch die Zielgruppen konnten in der Folgezeit direkten Einfluss auf den Umsetzungsprozess nehmen. Hingegen haben sich die unternommenen Umsetzungsbemühungen dort, wo keine Umsetzungsstrategie ausformuliert wurde, als unzureichend und meist wenig angepasst erwiesen. Dieser Umstand ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass die Forscher die Bedürfnisse bzw. die spezifischen organisatorischen Merkmale der betroffenen Anwender nicht genügend erfasst bzw. berücksichtigt hatten.

1.1.4 Anwendungsprädiktoren

Eine unserer Arbeitshypothesen lautete, dass die durch die Forscher geleistete Umsetzung im Zusammenhang steht mit den Beziehungen, die vor, während und nach der Datenerhebung mit den Anwendern geknüpft werden konnten. Aus dieser Perspektive wird der Anwender nicht etwa als passives, zu belehrendes Objekt der Umsetzung, sondern vielmehr als eine Aufnahmestruktur mit eigenständiger Dynamik wahrgenommen. Die erreichten Wirkungen werden folglich in grossem Masse von der "Kompetenz" abhängig sein, mit der die betreffende Forschergruppe die jeweilige interne Dynamik der einzelnen Zielgruppen erfasst und in der Folgezeit die entsprechenden Umsetzungsbemühungen einleitet. Darüber hinaus hängen die erreichten Wirkungen allerdings auch zum grossen Teil von den Bemühungen ab, die von den Anwendern selbst unternommen werden. Unabhängig davon, ob Veränderungsprozesse durch Anwender, durch Mediatoren oder durch die Forscher selbst ausgelöst werden, müssen die Anwender ein ausreichend differenziertes Problembewusstsein aufweisen bzw. entwickeln, die Veränderung wünschen und sich rückhaltlos an der Einführung der Innovation beteiligen.

Die von den Abnehmern unternommenen Bemühungen.

55 der 66 (83%) auf die vorgelegten Schätzskalen antwortenden Anwender bezeichnen den von ihnen für die Umsetzung eingesetzten Mittel- und Zeitaufwand als determinierende Faktoren. Gleichzeitig beurteilen allerdings nur 30% die erlebte Situation als zufriedenstellend, wobei diese Aussagen einerseits im Sinne eines "mea culpa" der antwortenden Anwender, andererseits aber auch als Kritik den Forschern gegenüber vorgebracht wurden.

Aufgrund der vorliegenden Daten ist es möglich, eine bestimmte Bereitschaft zur Umsetzung von seiten der Anwender vorauszusagen, (a) wenn die Zielgruppe bestimmte interne Regelungen bzw. Merkmale aufweist, welche die spätere Aufnahme neuer Forschungsergebnisse begünstigen (institutionalisierte Weiterbildung, gut funktionierender interner Informationsfluss); (b) wenn mit dem Engagement und der Unterstützung durch die Kader und Schlüsselpersonen gerechnet werden kann; (c) wenn die Anwender die Verbindung zwischen dem Forschungsprojekt und ihren Bedürfnissen bzw. Prioritäten wahrnehmen; (d) wenn Verbindungen zwischen der Anwenderorganisation und der Forschergruppe oder zwischen der Anwenderorganisation und Mediatoren hergestellt werden, oder (e) wenn die Anwender in den Forschungsprozess mit einbezogen werden und somit die Gelegenheit erhalten, im Rahmen der eigenen Praxis die Bedeutung der Projektresultate wahrzunehmen. Die folgende Darstellung ist das Ergebnis einer näheren Analyse der einzelnen Merkmale:

 

 



I.Bei ungenügendem Verständnis der Projektresultate besteht das Risiko einer relativ starken Verzerrung, wenn die Anwender nicht direkt von den Forschern betreut werden.

In einigen Fällen ist es den Forschern erst im Rahmen von Einzelgesprächen gelungen, die entstandenen Verzerrungen (z.B.: "kein Problem, ich kann so weitermachen wie gewohnt") zu korrigieren. Bei jenen Anwendern, die an solchen Follow-up-Gesprächen teilgenommen hatten, konnte das bessere Verständnis der hauptsächlichen Forschungsergebnisse eindeutig in ihrer persönlichen Praxis festgestellt werden.

 



II. Die Uebereinstimmung der Projektresultate mit bestehenden Meinungen, verbunden mit einem hohen Problembewusstsein, führt zu einem besseren Verständnis der Projektresultate und somit zu einem Minimum an Verzerrungen. Ist dies nicht der Fall, dann besteht die Gefahr, dass die Projektresultate verzerrt und zu opportunistischen Zwecken missbraucht werden.

Für 67% der antwortenden Anwender stimmten die Resultate mit ihrer eigenen Meinung überein, für weitere 19% war die übereinstimmung begrenzt. Für 7% der Antwortenden stimmten sie nicht überein und weitere 7% kannten die betreffenden Ergebnisse zu wenig, um eine Beurteilung vorzunehmen.

 


 III. Folgeaktivitäten und interaktive Umsetzungsbemühungen können in hartnäckigen Fällen dazu beitragen, die politischen Spannungen bei den einen zu lockern bzw. bei den anderen das notwendige Problembewusstsein zu entwickeln.

In zwei Fällen konnten wir beobachten, wie die von den Forschern und Anwendern gemeinsam unternommenen Umsetzungsbemühungen dazu beigetragen haben, bei den einen politische Spannungen abzubauen und bei den anderen das notwendige Problembewusstsein zu erwecken. Hier sind auch kaum Verzerrungen zu beobachten - ein Ergebnis, das ebenfalls auf die zahlreichen stattgefundenen Kontakte zwischen Forschern und Anwendern, auf die intensiv durchgeführten Follow-ups und die leicht lesbaren Populärfassungen zurückzuführen ist.

Im Gegensatz dazu reichten in einem Fall aufgrund des zu schwachen Problembewusstseins auf Anwenderseite die in der Folgezeit unternommenen Umsetzungsbemühungen nicht aus. Die Anwender verstanden im Endeffekt nicht, worum es eigentlich ging und wiesen die Forschungsergebnisse zurück.


IV. Das Vorhandensein hohen Problembewusstseins, einer offenen Aufnahme-struktur, sowohl als auch eines guten Resultatverständnisses sind nicht immer ausreichend, um zu bescheidene Umsetzungsbemühungen auf der zwischenpersönlichen Ebene zu kompensieren.

In dieser Kategorie können vor allem jene Anwenderorganisationen zusammengefasst werden, die im Prinzip wichtige Mediationsfunktion übernehmen könnten und sollten. So z.B. der Fall von VEL-K: hier war das Problembewusstsein hoch, einer der Kader war Mitglied der Expertengruppe; hier hatte man keine Schwierigkeiten, wissenschaftliche Berichte zu lesen und folglich wurden auch die Projektergebnisse gut verstanden. Andererseits stimmten die Forschungsergebnisse nur teilweise mit den vorherrschenden Meinungen überein. Dadurch entstanden starke Verzerrungen, die nie korrigiert werden konnten, da sich Forscher und Anwender wegen einer Reihe von Turbulenzen während des Projektverlaufs "auseinandergelebt" hatten. Die von den Forschern "vernachlässigten" Schlüsselpersonen waren weder bereit noch fähig, von sich aus den nötigen Transfer auf ihr Praxisfeld vorzunehmen.

 

V. Die mangelnde Uebereinstimmung zwischen den Projektresultaten und den vorherrschenden Meinungen bei den Anwendern scheint vor allem dann schwerwiegende Verzerrungen hervorzurufen, wenn das Bewusstsein bezüglich des untersuchten Problems zuwenig differenziert ist und zudem wenig zur Umsetzung der Resultate unternommen wird.

In zwei Fällen konnten auch während des Projektverlaufs die anfänglichen Zweifel bezüglich der Zweckmässigkeit der Untersuchung nicht abgebaut werden. Nach Meinung der befragten Kader beruhen diese auf Resistenzen ihrer Mitarbeiter dem Gesuchssteller gegenüber: "...jeder kennt ihn, weiss, was er denkt und will". Die mangelnde Bereitschaft, sich mit den Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen, wurde hier noch durch die fehlende Umsetzungs-kompetenz und den ungenügenden Einsatz von seiten der Forschergruppe verstärkt und bestätigte die Anwender in der Folgezeit in ihrer Meinung, die Ergebnisse seien für sie unbrauchbar.

Der Einfluss der Umsetzungskompetenz der Forscher.

Haben die von den Forschern unternommenen Umsetzungsbemühungen vermocht, die mehr oder weniger positiven Ausgangsbedingungen auf Anwenderseite (Resultatverständnis, Problembewusstsein, über-einstimmung mit vorherrschenden Meinungen, mögliche Verzerrungen) zu beeinflussen bzw. zu kompensieren und damit in der Folgezeit zu konzeptuellen und instrumentellen Wirkungen geführt? Unsere statistischen Analysen ergeben tatsächlich einen hohen (tau = .56) und signifikanten Zusammenhang (p < .01) zwischen der Umsetzungskompetenz der Forscher und den konzeptuellen Wirkungen bei den Anwendern. Darüber hinaus liegen aber die errechneten Korrelationswerte zwischen den von den Forschern geleisteten Umsetzungsbemühungen und den konzeptuellen Wirkungen bei den Anwendern sichtlich höher (tau = .70, (p < .001). Wir schliessen daraus, dass es den Forschern in einzelnen Fällen gelungen ist, die mangelnde Kompetenz durch einen besonders intensiven Zeit- und Mittelaufwand zu kompensieren.

Um den Einfluss der Prädiktoren auf Anwenderseite auf die Wirkungen der erfolgten Umsetzung etwas näher zu untersuchen, wurden eine Reihe von Teilkorrelationen zwischen (a) der Umsetzungskompetenz der Forscher, (b) den Anwendungsprädiktoren auf Anwenderseite und (c) den konzeptuellen Wirkungen berechnet. Es hat sich gezeigt, dass die verschiedenen "Prädiktoren" auf der Anwenderseite keinen direkten Einfluss auf die konzeptuellen Wirkungen ausüben. Somit scheint die Verantwortung für diese konzeptuellen Wirkungen doch hauptsächlich bei den Forschern zu liegen.

Die Zusammenhänge zwischen den untersuchten Merkmalen sind weniger offensichtlich, wenn es um die instrumentellen Wirkungen geht. Hier liegen die schwachen bzw. sogar mittleren Korrelationswerte jeweils unterhalb der Signifikanzschwelle. Jedoch weisen die errechneten Teilkorrelationswerte auf ähnliche Tendenzen wie bei den konzeptuellen Wirkungen hin.

In der Grosszahl der untersuchten Fälle scheint die von den Forschern unternommene Umsetzung folglich das Problembewusstsein der betroffenen Anwender beeinflusst zu haben, ohne jedoch unbedingt individuelle oder kollektive Handlungen auszulösen. Im Gegensatz dazu hat sich der geleistete Arbeitsaufwand (z.B. verschiedenartige Informationskanäle und Umsetzungsprodukte) in der Mehrzahl der Projekte als hauptsächlicher Einflussfaktor erwiesen. Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse haben die Forscher unserer Ansicht nach mehr "good-will" als "know-how" an den Tag gelegt.

 

1.1.5. Die Qualität der von den Forschern unternommenen Umsetzung

82% der Antwortenden sind der Meinung, die "persönlichen Kontakte zwischen Forschern und Anwendern" sei die wichtigste Grundlage einer erfolgreichen Umsetzung, an zweiter Stelle wird die "Priorität der Umsetzung" genannt und an dritter Stelle die "Redaktion adressatenspezifischer Berichte".

Als wichtige inhaltliche Kriterien für die "Qualität der Produkte" werden andernorts die "Lesbarkeit" und "Konzentration auf wirklich Veränderbares" genannt. 69% der Antwortenden vertreten hier die Meinung, die von den Forschern verfassten Berichte bzw. mündlichen Präsentationen der Forschungsresultate seien leicht verständlich gewesen und haben konkrete Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Andererseits bezeichnen 70% der Antwortenden die "Berücksichtigung des Anwenderkontexts" als entscheidenden Faktor, der jedoch in 38% der Fälle vernachlässigt worden sei.

Für 69 % der befragten Anwender ist die Attraktivität der Umsetzungsprodukte ein entscheidender Faktor; die Hälfte der Befragten beurteilten die in dieser Hinsicht unternommenen Bemühungen als zufriedenstellend.

Die Gültigkeit der Umsetzungsprodukte.

Die Uebertragung der Projektergebnisse aus einem spezifischen Forschungskontext auf ein neues Praxisfeld stiess auf zahlreiche Schwierigkeiten. Mit drei Ausnahmen wurde in allen Fällen die Generalisierbarkeit des wissenschaftlichen Ergebnisberichts als problematisch bezeichnet, die interne Gültig-keit einiger Populärfassungen warf ihrerseits weitere Fragen auf. Die als "unproblematisch" beurteilten schriftlichen Ergebnisberichte enthielten entweder präzise Anwendungshinweise in ähnlichen Problemsituationen, oder berücksichtigten die klassische Vorgehensweise repräsentativer Stichproben, d.h. schränkten die Aussagen auf die untersuchte Population ein. Im Gegensatz dazu hat sich in der Mehrzahl der Fälle die Uebertragbarkeit der verschiedenen Populärfassungen als zufriedenstellend erwiesen. Darüberhinaus bestanden in 9 11 Fällen keine Zweifel über die innere Gültigkeit der Forschungsergebnisse.

Eine nähere Untersuchung ergibt hier, dass die von den Anwendern wahrgenommene Gültigkeit sehr stark mit dem Verständnis der Resultate zusammenhängt. Dieses wird wiederum zum grossen Teil von den Umsetzungsbemühungen bestimmt, die sowohl von den Forschern als auch von den Anwendern selbst unternommen werden.

1.1.6 Umsetzung als soziale Dienstleistung - ja, aber nicht zu jedem Preis

Die Ergebnisse unserer Untersuchung weisen auf die wichtige Rolle der von den Forschern unternommenen Umsetzungsbemühungen hin. Allerdings lassen sie auch keinen Zweifel darüber, dass diese Bemühungen sich vor allem dort als wirksam erweisen, wo Forscher gemeinsam mit den Anwendern den möglichen Praxisbezug ihrer Studie aushandeln und in der Folgezeit eine Umsetzungsstrategie entwickeln, die auf die spezifischen Bedürfnisse ihrer Adressaten eingeht, ohne unbedingt mit ausserordentlichem Mittel- und Zeitaufwand verbunden zu sein.

Dank der richtigen Dosierung zwischen Verantwortungsübernahme und -delegation gelang es einigen Forschergruppen im EVA-Projekt, ein Beispiel dafür zu setzen, wie Umsetzung als soziale Dienstleistung wahrgenommen werden kann und soll. "Sozial" ist diese Leistung in dem Sinne, als sie auf der Beziehungsebene erfolgt. Schriftlichen Mitteilungen wird hier eher eine Nebenrolle eingeräumt. "Dienstleistung" wird im Sinne von kompetenter Know-how-Vermittlung wahrgenommen, die nichts mit Aufopferung oder gar Strafarbeit zu tun hat.

Die Kompetenz- und Aufgabenbereiche sind klar definiert und beide Seiten sind bereit, gemeinsam ein bestimmtes Problem zu lösen: auf der Forscherseite wird eine - auch längerdauernde - Hilfestellung angeboten, um die Ergebnisse inbezug auf ihre sinnvolle Nutzung für den betroffenen Praxisbereich zu untersuchen. Die Anwender ihrerseits sind aus verschiedenen Gründen (wahrgenommene Gültigkeit der Studie, bereits bestehende oder im Verlauf der Studie entstandene Beziehung zur Forschergruppe, Bedürfnis nach wissenschaftlich fundierter "Schützenhilfe", um institutionelle Ansprüche durchzusetzen) daran interessiert, das vorliegende Know-how für sich zu nutzen.

Natürlich handelt es sich hier um eine Art von Idealzustand. Das Interessante bei unserer Untersuchung ist aber gerade, dass wir zeigen konnten, dass solche Idealzustände aktiv von Forschern geschaffen werden können, vorausgesetzt, sie gehen mit genügend Kompetenz an die Sache heran. Ein weiteres interessantes Ergebnis ist, dass Forscher durchaus fähig sind, sich diese Kompetenz relativ rasch anzueignen, wenn sie genügend Antrieb und Unterstützung sowohl von der Programmleitung als auch von den Anwendern selbst erhalten.

Aus diesem Grunde scheint es angebracht, die Forscher darin zu unterstützen, dass sie (a) die Zielgruppen (Lehrer, Arbeitsgruppen usw.) identifizieren, die an den Ergebnissen ihrer Forschungen interessiert sein könnten; (b) auf das Feld gehen, um zu überprüfen, inwiefern die Praktiker tatsächlich bereit und fähig sind, diese Ergebnisse in die Praxis umzusetzen; (c) die Praktiker während der Umsetzung zu begleiten, um die notwendigen Korrekturen vorzunehmen, sich gegen eine falsche Auslegung und folglich auch gegen die Verzerrung der Forschungsresultate zu strategischen Zwecken zu schützen.

Es handelt sich im Endeffekt in diesem Ansatz darum, den Bezug Theorie-Praxis wie eine "sanfte Technologie" wahrzunehmen: die Forscher übernehmen die volle Verantwortung der Umsetzung ihrer Forschungsresultate und garantieren diese während dem gesamten Prozess. Sie berücksichtigen dabei soweit wie möglich den Arbeitskontext des Praktikers und helfen ihn dabei, die wissenschaftlichen Ergebnisse an die lokalen Bedürfnisse anzupassen.

Die Einfachheit dieses Ansatzes ist zugleich ihre Schwäche. So ist es manchmal ziemlich schwierig, vor allem zu Beginn einer Forschung, die interessierten Zielgruppen zu identifizieren, ausser wenn diese sich spontan melden. Ein weiteres, schwierigeres Problem besteht darin, dass viele Forscher weder die Bereitschaft noch die Kommunikationsfähigkeit besitzen, um den Dialog zum Praktiker zu knüpfen, um seine Ansichten und Fragen wahrzunehmen, zu verstehen und ernst zu nehmen. Und auch die Praktiker könnten sich eher zurückhaltend zeigen, wenn die Forscher plötzlich sehr aktiv und aggressiv werden, ohne vorher einige persönliche Kontakte geknüpft zu haben.

1.2 Die Handlungsforschung

Im Gegensatz zum vorhergehenden Ansatz, der doch insofern eine relativ grosse Asymmetrie zwischen Forschern und Praktikern herstellt, als die Forscher die volle Verantwortung für Forschungsresultate übernehmen, versucht die Handlungsforschung, Forscher und Praktiker in einem gemeinsamen Unternehmen näherzubringen: sie lädt beide dazu ein, gemeinsam ein Projekt, eine Methode, eine Veränderungsstrategie zu entwerfen und umzusetzen. Wenn dieser Ansatz auch auf den ersten Blick eher überzeugend wirkt, so haben sich die entsprechenden Versuche oft für beide Parteien als enttäuschend erwiesen. Solange ein Handlungsforschungsprojekt nicht seit Beginn mit äusserster Sorgfalt vorbereitet, ausgehandelt und überlegt und während dem gesamten Prozess seriös begleitend evaluiert wird, löst es eine ganze Reihe von Illusionen aus, die im allgemeinen nur zu Enttäuschungen führen können. Die erste Illusion besteht darin zu erwarten, dass das Projekt reelle und dauerhafte Praxisveränderungen auslöst. Dies kann zwar vorkommen. Aber meist trägt die Handlungsforschung aufgrund von Zeitmangel und zuwenig Ausdauer vonseiten der Beteiligten eher dazu bei, dass diese sich der Komplexität des Systems, seiner Barrieren und Resistenzen, ihrer unterschiedlichen Vorstellungswelten und schlussendlich ihrer Ambivalenzen bewusst werden. Eine weitere Illusion besteht in der - meist kaum offen zugegebenen - Hoffnung, seine Identität zu verändern. So hoffen manche Praktiker, dank der Handlungsforschung Forscher zu werden - oder zumindest "forschende Praktiker". Auf der anderen Seite erhoffen sich wiederum manche Forscher, dass die Handlungsforschung es ihnen erlauben wird, aufgrund des Engagements der Beteiligten der realitätsfernen, wenig herzlichen und spontanen Forschergemeinschaft zu entkommen, in der sie sich vielleicht nicht mehr wohlfühlen.

Aber die Hoffnung auf Identitätsveränderung sind dort falsch, wo jeder doch in seinem Status befangen und gezwungen bleibt, sich den Spielregeln seiner Bezugsgruppe unterzuordnen: für die einen die Spielregeln des Schulsystems, für die anderen die Spielregeln einer Universität oder einer Arbeitsstelle. Der Lehrer bleibt im Endeffekt für seine Klasse verantwortlich und muss sich seinen Vorgesetzten gegenüber für die Ergebnisse - bzw. die fehlenden Ergebnisse - rechtfertigen. Der Forscher seinerseits bleibt Mitglied einer Institut, deren Aufgabe darin besteht, neue Theorien, Denk- und Aktionsmodelle zu entwickeln, sich mit Publikationen auf dem "Bildungsmarkt" zu profilieren.

Hinzu kommt die folgende dritte Illusion: man meint oft, die Handlungsforschung würde dazu beitragen, dass andere Praktiker, die nicht direkt beteiligt waren, eher zur Umsetzung der Ergebnisse bereit sind. Aber: die Ergebnisse eines Handlungsforschungsprojekts sind für die Ausssenstehenden ebenso schwierig zu verstehen und umzusetzen wie die Ergebnisse eines klassischen Forschungsprojekts, solange keine echte Interaktion und Kommunikation stattfindet zwischen jenen, welche das neue Wissen produzieren und jenen, die es konsumieren.

1.3 Schulhauszentrierte Weiterbildung

Es handelt sich hier um die neue Welle, die sowohl die Lehrer, als auch die Schulbehörden seit dem Ende der 80iger-Jahre in ihren Bann geschlagen hat. Die Lehrer haben dank diesem Ansatz das Gefühl, endlich ernstgenommen zu werden, die Möglichkeit zu erhalten, unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten und teilweise mit Hilfe von aussenstehenden Experten, die Veränderung gewisser Praktiken vorzunehmen. Die Schulleitungen nehmen ihrerseits die Schulprojekte als willkommene Möglichkeit der Motivierung und Beteiligung der Lehrerschaft teil, ohne dass die Schule umgestülpt wird. Die Forscher ihrerseits nehmen das Schulprojekt als die Chance wahr, ihre Forschungsergebnisse konsequent und kohärent in die Praxis umzusetzen. Zudem versprechen sie sich die Erschliessung eines neuen psychosozialen Forschungsfelds: das Schulhaus als neues Beobachtungsobjekt.

Diese sehr unterschiedlichen Ansprüche und Hoffnungen versprechen im voraus eine Unzahl neuer Kommunikationsprobleme zwischen den verschiedenen Partnern.

Jedes erfolgreiche Schulprojekt stellt eine Art von Entwicklungsprozess dar, Nutzung der verfügbaren Ressourcen, Umsetzung der neuen Lösungen. Damit ein solcher Prozess stattfinden kann, braucht es oft eine Unterstützung und Beratung von aussen, damit das Lehrerteam besser mit der Komplexität der Praxis und der geplanten Veränderung fertig wird. Sowohl die Lehrer als auch die Schulleiter unterschätzen oft die Rolle und Bedeutung dieser Beratungstätigkeit, oder haben diesbezüglich keine klare Vision: geht es darum, Lösungen zu produzieren, die Beziehungsdynamik innerhalb des Schulhauses besser zu verstehen, eine Ziel- und Methodenklärung vorzunehmen, Disfunktionen aufzuzeigen, zur Rollen- und Aufgabenklärung der verschiedenen Beteiligten beizutragen?

Ihrerseits fehlt vielen Forschern, die von Schulhäusern angefragt werden, die notwendige sozialpsychologische Vorbereitung, um die Probleme analysieren zu können, die sie erwarten. Es besteht das Risiko, dass sie sich - aus verschiedenen persönlichen Gründen oder auf das Drängen von offizieller Seite her - in einen Beratungsauftrag hineinstürzen, ohne die unterschwellige Dynamik zu analysieren, bzw. ohne die vorder- und hintergründigen Bedürfnisse der verschiedenen Beteiligten zu analysieren. (Perrenoud, 1988).

 

2. Einige notwendige Haltungsveränderungen
bei Forschern und Praktikern

Die Schwierigkeiten, die mit den drei Ansätzen verbunden sind, die ich sehr rasch beschrieben habe, weisen auf die zentrale Bedeutung eines gegenseitigen Familiarisierungsprozesses zwischen (Huberman & Gather Thurler, 1991) Forschern und Praktikern hin. Damit sie aus der zerstörerischen Dynamik des "verdammten Paares" (Weiss, 1993) herausfinden, müssen sie neue Beziehungen schaffen und stärken, eine solide Basis für Zusammenarbeit schaffen, die auf der gegenseitigen Kenntnis der Funktionsweise und Bedürfnisse des anderen beruhen und dank gemeinsamer Erfahrungen die klassischen Stereotypen überwinden.

 2.1 Auf der Seite der Praktiker

Die oben beschriebene Forschungsstudie weist darauf hin, dass die Praktiker nur sehr progressiv und im Rahmen von informeller Zusammenarbeit die Vorteile einer Annäherung an die Forscherwelt wahrnehmen, dass sie sich nur langsam davon überzeugen lassen, dass die Forscher "interessanter sein können als man es sich hätte vorstellen können", dass die Forschungsergebnisse für sie auf die Dauer von Nutzen sein könnten, dass ihr anfängliches Misstrauen falsch am Platz war, dass es den Forschern im Endeffekt keineswegs darum geht, sie um ihre Erwartungen zu betrügen: ein besseres Verständnis der Realität, eine Reflexion der Praxis und Hilfsmittel, um die pädagogischen Ziele zu erreichen.

Darüberhinaus verstärkt die Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis die Offenheit für Veränderungen: (Gather Thurler & Perrenoud, 1991): dank der Oeffnung anderen Denkweisen gegenüber, dem Erfahrungsaustausch; dem Recht auf Fehler machen, zum Ausprobieren, statt auf das sture Umsetzen von aufgezwungenen Rezepten und Vorschriften; eine realistische und selbstkritische Haltung gegenüber dem pädagogischen und methodischen Wissen, Verzicht auf magisches Denken und die üblichen Verteidigungsmechanismen; die Akzeptanz, sich selbst als Beobachtungs- und Analysegegenstand wahrzunehmen; und schlussendlich, die Oeffnung nach aussen, die Gewohnheit, über den eigenen Zaun zu blicken, Hypothesen, Erklärungen und Strategien aus anderen Arbeits- und Sozialbereichen zu übernehmen, sich dem Blick von aussen zu stellen.

2.2 Auf der Seite der Forscher

Es ist wichtig, dass die Forscher ihre Vorurteile der Praxis gegenüber abbauen, dass sie dank der Zusammenarbeit mit Praktikern besser deren Sorgen, Schwierigkeiten und Hemmschwellen verstehen lernen, die sie daran hindern, die Forschungsergebnisse in ihre Praxis umzusetzen. Es ist wichtig, dass sie es lernen, besser zuzuhören, besser zu verstehen, und besser auf die Realität der Praxis einzugehen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen den methodologischen Ansprüchen der Forschung und den Erwartungen der Praxis, dass sie es lernen die verschiedenartigen Wege zu nutzen, um ihre Forschungsergebnisse in die Praxis zu bringen, um bereits zu Beginn eines neuen Forschungsprojekts den Dialog mit der Praxis herzustellen, um ihre Forschungshypothesen vor dem Hintergrund der Praxis zu überprüfen und zu vervollständigen, um die notwendigen Kompromisse einzugehen, ohne Verzerrungen zu akzeptieren.

 

3. Entwicklung von Forschungskompetenzen im Bereich der Lehreraus- als auch die Fortbildung

 Zu Beginn gilt es folgende Frage zu beantworten: Lohnt es sich, alle Lehrer im Rahmen ihrer Grundaus- und Fortbildung in die Praxis der Forschung einzuführen?

Ich möchte diese Frage grundsätzlich mit ja beantworten, und diese Antwort mit 3 Argumenten begründen:

1. Die forschungsorientierte Grundaus- und Fortbildung führt zu einer aktiven Aneignung der Grundkenntnisse um Bereich der Humanwissenschaften.

2. Die Forschungstätigkeit ermuntert die Lehrer dazu, die Ergebnisse der Forschung in ihre Praxis zu übernehmen, bzw. ihrerseits aktiv an Forschungsprojekten teilzunehmen.

3. Die Forschungstätigkeit kann sehr nutzbringend in die Praxis einer reflektierten Praxis übertragen werden.

3.1 Forschung als Ausgangsbasis für die aktive Aneignung der Grundkenntnisse um Bereich der Humanwissenschaften

 In allen Berufssparten, die sich auf wissenschaftlich erworbene Grundkenntnisse abstützen, ist es notwendig, dass

- die Berufsleute sich einen Teil dieser Grundkenntnisse seit Beginn ihrer Grundausbildung aneignen;

- sie diese regelmässig auf den neuesten Stand bringen können.

Ist es dazu notwendig, sie in die Forschung einzuführen? Die Antwort darauf ist nicht einfach und sehr stark vom jeweiligen Ausbildungsmodell abhängig. Die Teilnahme an Forschung bringt einen grossen Teil von Verunsicherung mit sich, überall dort, wo man an die Grenzen des Wissens stösst: diese Verunsicherung hat nicht immer einen didaktischen Wert, kann sogar oft Gegenwirkungen auslösen, vor allem dort, wo der Lernende bereits von Zweifeln bzw. fehlender Lernmotivation geplagt ist.

Andererseits sind die Vorteile eindrücklich: Die Teilnahme an Forschung erlaubt eine bessere Integration Wissens in den Habitus. Die Lernenden erwerben das neue Wissen auf aktive, teilnehmende Art. Sie lernen besser sehen und beobachten und entwickeln dadurch eine grössere Fähigkeit der Relativisierung und der Dezentrierung. Unter anderem werden auch folgende Fähigkeiten und Kompetenzen geschult:

a) eine analytischere und differenziertere Realitätswahrnehmung

b) besseres Zuhören

c) besseres Entdecken des Verdeckten, Verdrängten, Unausgesprochenen

d) Akzeptanz der Verschiedenheiten und Diversitäten

e) Relativisierung von Allgemeinplätzen

 

4. Ein anderer Bezug zur Forschung

Die Einführung in die Forschung ist nur einer von vielen Wegen, um die Lehrer dazu zu bringen, an der Realität und an sich selbst zu arbeiten. Aber daneben ist stellt sie vielleicht den wirksamsten Weg dar, um bei den künftigen Lehrern sowohl das kritische und autonome Denken als auch eine aktive, anspruchsvolle und pragmatische Haltung den Erziehungswissenschaften gegenüber zu entwickeln. Eine kritische aber offene Haltung und die Fähigkeit zur optimalen Nutzung der Forschungsergebnisse entstehen bekannterweise dort, wo die Praktiker direkt an Forschungsprojekten beteiligt werden.

 

5. Ein übertragbares Verhaltensparadigma

Die Einführung in die Forschung sollte dazu beitragen, bei den Lehrern die Gewohnheit der reflektierten Praxis zu entwickeln, das heisst, die Bereitschaft und die Kompetenz, individuell und kollektiv ihrer Handlungen zu überdenken, sich selbst zu beobachten, seine Denk-, Entscheidungs- und Handlungsweise und auch die Fähigkeit, die Wirkungen dieses oder jenes didaktischen Vorgehens bzw. dieser oder jener Haltung im voraus zu beurteilen bzw. im nachhinein kritisch zu überdenken.

Empirische Forschung bietet konkrete Modelle für das Zusammenspiel zwischen Theorie, Beobachtung und Experimentieren an. In der Forschung bietet die Theorie vor allem eine Beobachtungsgrundlage, die es erlaubt, zu sehen, vorzubeugen, zu analysieren, "Fakten" zu konstruieren.

 

6. Zum Schluss:
einige Anstösse zum weiteren Nachdenken

Nach diesem langen Plädoyer zur Ueberwindung der Kluft zwischen Theorie und Praxis drängt sich eine Reaktion geradezu auf: Warum soll man es einfach machen, wenn es auch kompliziert geht? Macht es wirklich Sinn, den Praktiker neben der Komplexität seines Berufsfelds auch noch dazu zu zwingen, über diese Komplexität nachzudenken? Riskiert er nicht, wie der Tausendfüssler über seine Beine zu stolpern, wenn er beginnt, sich dessen bewusst zu werden, dass er ständig 999 Beine koordinieren muss?

Ist die Theorie eine Hilfe oder eine blosse Illusion, kann die Theorie überhaupt einen Beitrag zu Praxis leisten? Und umgekehrt: Besteht nicht das Risiko, dass aufgrund einer Annäherung zwischen den beiden Bereichen die Konzepte banalisiert, auf fälschliche Weise in schmackhafte Happen für Praktikergaumen zurechtgestutzt werden?

Sind gemeinsam konstruierte Konzepte nicht noch unbeweglicher als einseitig vorgebrachte Konzepte, weil dadurch im Endeffekt jeglicher Opposition ein Riegel vorgeschoben wird?

Besteht nicht die Gefahr, dass durch die Einbindung der die reflektierenden Praktiker in die Welt der Forscher die "Noosphäre" noch vergrössert wird, der Taylorismus noch akzentuiert wird?

Schlussendlich: besteht nicht das Risiko, dass die gesamte Schule verrationalisiert wird, weil nur das interessant und forschungswert ist, was objektivierbar und greifbar ist? Dass sich die Schule als Denkfabrik wahrnimmt, die gescheites Wissen produziert, und die anderen schwieriger zu erfassenden Bereiche wie Sozial- und Selbstkompetenz ausser Betracht lässt?

Natürlich können diese Fragen eine gewisse Angst auslösen. Sie können aber auch dazu beitragen, dass gewisse Fehler und bestimmte Sackgassen vermieden werden.

Im Endeffekt verlieren diese Fragen, Sorgen und Aengsten dort an ihrer Bedeutung, wo Forschung in ihrer zentralen Bedeutung wahrgenommen wird: als einer der Eckpfeiler der Professionalisierung des Lehrerberufs. 

 

Beilage 1

Quelle und Form der Daten für die 11 Fallstudien als Grundlage für die Ergebnisse, die im Kapitel 1.1 dargestellt werden.

 


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