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 Communiqué de presse 

Wie fühlt die Schweiz? Psychologen der Universität Genf haben repräsentativ untersucht, welche Emotionen die Schweizer empfinden

Die Forschungsgruppe Emotionen der Universität Genf (Leitung Prof. Dr. Klaus R. Scherer) stellte heute die Ergebnisse einer repräsentativen Untersuchung über die Häufigkeit mit der die Schweizer tagtäglich bestimmte Emotionen erleben vor. Es handelt sich dabei um die weltweit erste Untersuchung dieser Art. In zwei Wellen, Ende 1997 und Ende 2001, wurden insgesamt 1300 Schweizer in einer geschichteten Zufallsauswahl postalisch befragt, welches die stärkste Emotion war, die sie jeweils gestern erlebt hatten und mit welcher Häufigkeit sie bestimmte Emotionen empfinden. Ausserdem wurden sie zu ihrer Lebenszufriedenheit, ihrer Gesundheit und (mithilfe einer medizinischen Checkliste, Pfizer Prime MD, 1995) zu ihren Krankheits- oder Unwohlseinssymptomen befragt.

Obschon man nach den dramatischen inner- (Swissair, Zug) und ausserschweizerischen (11. September) Ereignissen eine Veränderung von 1997 auf 2001 hätte annehmen können, blieben die Muster der schweizerischen Emotions-Empfindungen erstaunlich stabil: "Gestern" empfanden 15.5% Irritation oder Ärger, 11.7% Freude, und 7.8% Angst. Es folgen Traurigkeit (6%), Glück (5%), Stress (5%), Enttäuschung (3.7%), und Zufriedenheit (2.6%), 8% empfinden eine Mischung mehrerer negativer und 7% mehrer positiver Emotionen. In 2% der Fälle sind die Emotionen ambivalent. Der Rest entfällt auf eine Vierzahl anderer Emotionen.

Zu den interessantesten Ergebnisse gehören sehr stabile (von 1997 bis 2001) und statistisch gegen Zufall abgesicherte Befunde zu Unterschieden zwischen Deutschschweizern und Welschschweizern. Die Welschschweizer berichten insgesamt ein höheres Ausmaß an negativen Emotion auf die Frage welches gestern ihr stärkstes Emotionserlebnis war, insbesondere Angst (anxiété), Irritation, Traurigkeit (tristesse). Bei der Frage, welche Emotionen sie mit welcher Häufigkeit empfinden, berichten die Welschschweizer zwar ein höheres Niveau an "Plaisir" (60% sagen „täglich“) dafür aber weniger andere positive Emotionen (Freude) und sehr viel mehr negative Emotionen (insbesondere Abscheu/Ekel (dégoût), Irritation, Angst, Schuld, Verzweiflung) als die Deutschschweizer.

Diese Tendenz setzt sich bei den Fragen nach der Zufriedenheit und der Gesundheit fort. Während nur 75,7% der Welschschweizer mit ihrem Leben zufrieden oder sehr zufrieden sind, sind es in der Deutschschweiz 84,7%. Besonders starke Unterschiede zeigen sich vor allem auch bei der Anzahl der berichteten Symptome: Die Welschschweizer erwähnen eine ganze Reihe von Symptomen viel häufiger als die Deutschschweizer.

Obschon diese Unterschiede über den 4-jährigen Untersuchungszeitraum hinweg sehr stabil und statistisch signifikant sind, bleiben die Ursachen jedoch ohne zusätzliche Forschungsanstrengungen zunächst offen. Mögliche Hypothesen sind:

  • Geht es den Welschschweizer insgesamt eher schlechter als den Deutschschweizern, da etwa die Arbeitslosenzahlen höher und die ökonomische Situation weniger positiv ist als in der Deutschschweiz?
  • Oder sind die Welschschweizer im allgemeinen eher affektiv negativer gestimmt, pessimistisch, und ein bisschen hypochondrisch veranlagt (und gehen vielleicht deshalb öfter zum Arzt)?
  • Oder ist es ganz einfach in der Frankophonie akzeptabler von seinen Emotionen und Problemen zu reden als in der Deutschschweiz, wo man vielleicht dergleichen eher verharmlost (Es gibt zu denken, dass beihnahe 50% der Deutschschweizer angeben, nie Angst zu empfinden).

Die Genfer Forschungsgruppe wirft die Frage auf, ob es für die schweizerische Sozial- und Gesundheitspolitik, insbesondere die Entwicklung des leidigen Problems der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht nützlich wäre, die Antworten auf diese Fragen zu kennen. Prof. Scherer stellt in diesem Zusammenhang zur Debatte, ob die Indikatoren, die von der Politik im allgemeinen zugrundegelegt werden, die wichtigen psychologischen Mechanismen, die menschlichem Verhalten, auch im Gesundheitsbereich zugrunde liegen, nicht sträflich ausser acht lassen.

In diesem Zusammenhang ist ein weiteres Ergebnis der Genfer Forschungsgruppe von Interesse: Befragte in der Umfrage, die mit Kindern im Haushalt leben, berichten (1997 und 2001) ein signifikant höheres Ausmass an Irritation und ärger sowie Symptome von Müdigkeit und Angst.

Auch hier lässt sich fragen, ob diese Befunde nicht ein Warnsignal bezüglich der überlastung der emotionalen Verarbeitungsfähigkeit der Eltern darstellen, sowohl im Kleinkindalter als auch in der Adoleszenz. Zu denken gibt auch, dass Eltern mit Kindern im Haushalt 1997 neben höherem ärger auch mehr Stolz angaben ­ dieser Zusammenhang hat sich 2001 sehr abgeschwächt.

Insgesamt interpretiert Prof. Scherer die Befunde im Sinne eines weiteren Belegs der Annahme, dass die menschlichen Emotionen einen stammesgeschichtlich entwickelten Mechanismus zur Anpassung des Individusmus an wichtige, die eigenen Werte und Interessen betreffenden Ereignisse darstellen. Während politische Ereignissen (wie der 11. September), die Wahrnehmung und Interpretation vor allem potentieller Gefahren beeinflussen (und dadurch, vor allem bestärkt durch die Medienberichterstattung) diffuse Ängste erzeugen können, bleiben die tagtäglich erlebten Emotionen weitgehend stabil. Diese dürften jedoch für die Sozial- und Gesundheitspolitik von weit höherer Bedeutung sein als weithin angenommen.

Für weitere Informationen:
Klaus R. Scherer, Tel. 022 379 92 11
Tanja Wranik-Odehnal, Tel 022 379 92 27