Spiegel und Licht - Erkenntnis und Erleuchtung
Facetten analogischer Bedeutungsbildung in vormodernen Texten
Interdisziplinäre Tagung des SNF-Projekts
Spiegel und Licht – Erkenntnis und Erleuchtung
Zur Praxis analogischer Bedeutungsbildung in volkssprachiger Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts
03.-05. November 2022, Genf
Die Begriffe ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ werden seit der Antike zur Verhandlung von Erkenntnis verwendet, wobei sie im Mittelalter nicht nur Weltwissen und Selbsterfahrung verheißen, sondern auch im Kontext der Gotteserkenntnis relevant werden. Während Licht allerdings, wo es nicht in Blenden umschlägt, für unmittelbare Erkenntnis, Evidenz und Wahrhaftigkeit steht, weist der Spiegel auf Ähnlichkeitsbezüge zwischen zwei Erkenntnisgegenständen (zwischen dem Spiegel und dem Gespiegelten) hin. Vor allem die Spiegel-Metaphorik erweist sich dabei als Sinnbild für analogische Bedeutungsbildung, die in neuester Zeit (wieder) als zentral für Erkenntnis angesehen wird (Hofstadter / Sander).
In historischer Perspektive zeigt sich, wie Analogiedenken – vor den Ähnlichkeitsmodellen der Renaissance (Foucault) – die mittelalterliche (Schrift-)Kultur prägt, in welcher Allegorie, Typologie und Metaphorik bestimmend sind. Die Metaphorik von ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ ist in diesem Kontext nun insofern von besonderer Bedeutung, als sie nicht nur zur Darstellung von Erkenntnisprozessen verwendet wird, sondern selbst eine spezifische Erkenntnisleistung einfordert, da bereits die Übertragungsleistung von Bildspender zu -empfänger auf Analogiedenken beruht.
Von diesem doppelten Bezug ausgehend steht das Analogiedenken als ein kulturell bedeutsamer Prozess im Zentrum der Tagung: Während nämlich analogische Bedeutungsbildung als kognitiver Prozess in explizit historischen Untersuchungen noch kaum eine dezidierte Rolle spielt, tendieren philosophische, kognitionslinguistische und kognitionspsychologische Ansätze dazu, ihre Erkenntnisse unabhängig von historischen Gegebenheiten zu verabsolutieren. Anhand lateinischer und volkssprachiger Texte zeigen die Vorträge ein möglichst breites Spektrum analogischer Bedeutungsbildung auf verschiedenen Ebenen, um den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen dieser Denkform nachzugehen.
Im Rahmen der interdisziplinären Tagung, die literaturwissenschaftliche mit linguistischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen verbindet, werden historische Bezüge der Analogie zu Prozessen der Bedeutungsbildung diskutiert. Dabei lassen sich unterschiedliche Ebenen betrachten, auf denen ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ wirksam werden:
Semantische Ebene: Die historische Semantik der Begriffe ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ erweist sich bei näherer Betrachtung als überaus komplex. Da das Verständnis der Begriffe durch die Verwendung in immer neuen Kontexten / Texten um spezifische Nuancen verändert wird, ist neben begriffsgeschichtlichen Fragestellungen zu diskutieren, wie überhaupt Begriffe (bzw. Konzepte oder Kategorien) gebildet werden und welche Rolle Analogiedenken dabei als grundlegender Erkenntnisprozess spielt. Über solche sprachphilosophischen Betrachtungen hinaus ist etwa in metaphorologischer Perspektive konkret danach zu fragen, ob und wie die jeweilige Semantik der Erkenntnismetaphern ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ Einfluss auf die Vorstellung von Erkenntnis bzw. sogar den entsprechenden Erkenntnisprozess selbst nimmt.
Epistemologische Ebene: Für die Diskussion analogischer Bedeutungsbildung anhand der Metaphern ‚Spiegel‘ und ‚Licht‘ sind folglich erkenntnistheoretische Zugänge zentral, die einen Einblick in die grundlegenden epistemischen Bedingungen gewähren. In kognitions-wissenschaftlicher Perspektive zeigt sich dabei, dass in den Metaphern eine Vorstellung von Erkenntnis reflektiert und gleichzeitig mit ihnen individuelle wie kollektive Bedeutungs-bildung entfaltet wird, weshalb an der differenzierten Spiegel- und Lichtsemantik überlieferter Texte kognitiv bedingte Prozesse der Analogiebildung und der Konzeptualisierung von Begriffen verfolgt werden können. Vor diesem Hintergrund könnten die Ansätze aus den Bereichen der kognitiven Linguistik oder der Kognitionspsychologie am historischen Material auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft werden.
Narratologisch-poetologische Ebene: Die im Fokus stehenden epistemologischen und semantischen Aspekte von Spiegel- und Lichtvorstellungen sind vor allem in den überlieferten Texten greifbar, in denen sie zugleich narrativ entfaltet bzw. poetologisch bedeutend werden. Hier kann die Erweiterung von Begriffen und mentalen Konzepten, die zuerst semantischer Art sind, im Sinne der kognitiven Narratologie in der erzählerischen Dimension untersucht werden. So können Texte durch vielfältige Bezugnahmen Spiegeleffekte auf struktureller Ebene erzeugen und in Lichtvorstellungen auf ihre eigene Bedeutung reflektieren.
Didaktische Ebene: In vielen Texten des Mittelalters, etwa in sogenannten Fürsten- und Frauenspiegeln, in didaktisch ausgerichteten Wissensbüchern oder Exempelsammlungen lässt sich aufzeigen, inwiefern gezielt mentale Konzepte – vornehmlich von bestimmten Idealvorstellungen – aufgebaut, strukturiert und vermittelt werden. Hier ist sowohl nach den Strategien zu fragen, die Analogiedenken voraussetzen bzw. einfordern, als auch nach den (historischen) Möglichkeiten und Bedingungen der Vermittlung komplexere Konzepte wie Tugendhaftigkeit etc. Zentral ist dabei die Auseinandersetzung mit kognitiven Prozessen und entsprechenden rhetorischen Mitteln.
Weitere Informationen inklusive einer Bibliografie finden sich auf der Projekt-Homepage:
https://www.unige.ch/lettres/alman/de/recherche/laufende-projekte/spiegel-und-licht/
Zusammenfassungen der Vorträge abstracts end.pdfAnreiseHotel Cornavin: Boulevard James-Fazy 23, Genève --- Espace Colladon: rue Jean-Daniel-Colladon 2, Genève
Plan ÖPNV (TPG Genève)