Thematik

Die Tagung fokussiert (natürliche) Sprache(n), genauer: ihren (unweigerlich) heterogenen Charakter und eine damit einhergehende Fülle von sprachlichen Realisierungs- und Umsetzungsmöglichkeiten, und zwar aus den Perspektiven der Variations- und Textlinguistik. Diese haben sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. als Subdisziplinen der angewandten Linguistik etabliert, ihre Fragestellungen und Ausrichtungen im Laufe der Zeit aber nicht unbeachtlich erweitert (um nicht zu sagen: umorientiert).

Sowohl die Variations- als auch Textlinguistik sind als interdisziplinär ausgerichtete, weltweit betriebene Wissenschaftszweige zu betrachten, die programmatisch einerseits Anregungen der linguistischen Subdisziplinen (wie etwa Medienlinguistik, Korpuslinguistik, Politolinguistik, Fachsprachforschung) und Nachbardisziplinen (wie etwa Soziologie, Psychologie, Geographie, Kommunikationswissenschaft, Theologie, Literaturwissenschaft) aufgreifen und andererseits selbst befruchtend auf diese einwirken. Daher werden sie großteils als sog. Bindestrich-Disziplinen wahrgenommen. Festzuhalten ist jedoch, dass sie zwar eng mit anderen Wissenschaftszweigen zusammenarbeiten bzw. großteils den gleichen Gegenstandsbereich behandeln, sich aber Fragestellungen widmen, die jeweils eine spezielle sprachwissenschaftliche Ausrichtung implizieren.

Neuere Entwicklungen innerhalb der Textlinguistik stellen sich häufig in den Kontext des sog. cultural turn. Diese kulturwissenschaftliche Orientierung impliziert meist einen handlungstheoretischen Ansatz (im Sinne der sog. pragmatischen Wende), hebt aber inzwischen die Bedeutung anderer Medien/Modalitäten als der Sprache, insbes. von Layout und Typographie, sprich Textdesign, Bild, Film (iconic turn) sowie Materialität von Texten (material turn) besonders hervor. Dies betrifft auch die konkrete Lokalisierung von Texten (spatial turn), was einen wesentlichen Berührungspunkt zur Variationslinguistik konstituiert. Zugleich drohen dabei die sog. sprachinternen Merkmale ganz in den Hintergrund zu geraten bzw. auf textgrammatische Elementaria (Pronomen und Konnektoren) reduziert zu werden. Ferner besteht die deutliche Tendenz, mündlichen Sprachgebrauch (wieder) auszuklammern. Schließlich wird der Geprägtheit makrostruktureller Muster (Textsorten, Gattungen) durch Kulturen/Sprachen und damit auch der Normorientiertheit ein besonderes Gewicht beigemessen – mit dem Ergebnis, die intrakulturelle/-linguale Heterogenität zu vernachlässigen.

Diese bildet nun gerade den Hauptgenstand der Variationslinguistik, wobei selbstverständlich mikrostrukturelle Phänomene im Vordergrund stehen. Lag der Fokus zunächst auf der lautlichen (phonetisch-phonologischen) Ebene, so richtet sich das Interesse längst auch auf höhere Ebenen, insbes. Morphologie und Syntax. Die Textebene in Gestalt von komplexeren Sprachformen wird allerdings noch immer nur wenig berücksichtigt. Dass man heute von Variationslinguistik als ‚einer‘ Subdisziplin sprechen kann, erklärt sich daraus, dass hier diverse Spezialdisziplinen gewissermaßen zusammengewachsen sind, insbes. die auf areale Variation bezogene Dialektologie mit einer sehr alten Tradition und die seit den 1960er Jahren entstandene Soziolinguistik, die sich zunächst schichtenspezifischem Sprachgebrauch, dann allgemeiner Substandardvarietäten zuwandte. Eine weitere Quelle stellen die ebenfalls seit den 1960er Jahren entwickelten Ansätze zur Untersuchung gesprochener (Standard-)Sprache dar. In der neueren Variationslinguistik geht es um die Variation in allen ihren (ohnehin nur analytisch unterscheidbaren) Dimensionen, d. h. unter Einbeziehung des gesamten Varietätenspektrums, von kleinräumigen Dialekten über (regionale) Substandards bis hin zu „(supra-)nationalen“ Standardvarietäten, wobei selbstverständlich auch Faktoren wie Alter, Geschlecht, Mobilität, politische Orientierung usw. systematisch Berücksichtigung finden.

Im Vordergrund der Variationslinguistik steht mündlicher Sprachgebrauch, während die Textlinguistik sich inzwischen wieder auf Schrifttexte konzentriert. Einen ‚natürlichen Treffpunkt‘ stellt die informelle Schriftlichkeit im Internet dar. Dieses Phänomen zieht derzeit so viel Forschungsenergie auf sich, dass bereits eine neue Subdisziplin, die Internetlinguistik, ausgerufen wurde, ebenso wie das spezielle Interesse an der Visualität sich in einer Bildlinguistik manifestieren soll. Gegenüber dieser Tendenz der Vermehrung von Subdisziplinen und einer damit notwendigerweise einhergehenden Überspezialisierung möchte die Tagung Gemeinsamkeiten der Ansätze in den Vordergrund stellen und den gegenseitigen Austausch intensivieren.

Beide Disziplinen erfassen verschiedene Aspekte sprachlicher Vielfalt, für die mit spezi­fischen Schwerpunkten, Methoden und Zielsetzungen Korrelationen und Erklärungen gesucht werden. In der jüngeren Forschung lassen sich mehrere Schnittstellen zwischen beiden Bereichen finden. Dazu gehören die Fokussierung auf den tatsächlichen je nach Ort, Situation, Intention, Medium usw. variierenden Sprachgebrauch (auch aus sprachgeschichtlicher Perspektive), die Erstellung und Auswertung von Korpora, situativ-funktionale und stilistisch-kontextuelle Fragestellungen, die Gegenüberstellung von Soll- und Ist-Normen sowie der Bezug auf die Prototypentheorie. Anwendungsbezüge sind vielfältig und betreffen Übersetzung(swissenschaft) inkl. innersprachlicher Adressatenorientierung (Fachsprachen und Popularisierung) und Textoptimierung, Sprachtechnologie, mutter- und fremdsprachlichen Unterricht, Sprachkultivierung usw.

Im Rahmen der Tagung werden alle mit außersprachlichen Faktoren korrelierenden Erscheinungsformen von Sprachen diskutiert (user- vs. usage-based). Abgesehen von der historischen Variation lassen sich diese grob einteilen in folgende Varietäten: a) areal orientierte diatopische (etwa Dia- und Regiolekte, „nationale“ Varietäten, languages abroad), b) gruppenspezifisch orientierte diastratische (etwa Soziolekte, Jugendsprachen, Genderlekte) sowie c) funktional und situativ orientierte diaphasische (etwa Fachsprachen, Situolekte, Stile, Register).

In der Tagung wird der Textvariation/Variation im Text (sei es der grammatischen, lexikalischen oder formal-strukturellen) besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Beiträge, die die Gemeinsamkeiten zwischen variations- und textlinguistischen Ansätzen thematisieren, sind für die Tagung von besonderem Interesse. Selbstverständlich sind aber Präsentationen, die zwar weniger auf die Interdisziplinarität ausgerichtet sind, sich allerdings explizit entweder variations- oder textlinguistischen Fragestellungen widmen, ebenso willkommen. Erwünscht sind einerseits Beiträge, die die (Teil-)Ergebnisse eigener/universitärer Projekte (insbes. Dissertationen und Habilitationen im Frühstadium) darstellen, und andererseits solche, die method(olog)ische Fragen bei der Erhebung, Auswertung und Darstellung von Sprachdaten problematisieren.

Der Schwerpunkt der Veranstaltung liegt auf der deutschen Sprache; Beiträge zu anderen Sprachen, insbes. solche, die sich mit kontaktlinguistischen und sprachvergleichenden Fragestellungen auseinandersetzen, sind jedoch ebenso willkommen.

TeilnehmerInnen (einer stark praxisorientierten Tagung) werden mit diversen aktuellen Forschungsmethoden und -techniken vertraut gemacht, die in diversen variations- und textlinguistischen Projekten eingesetzt werden. Dies soll sie dazu anregen, auch in eige­nen Projekten neue method(olog)ische Ansätze auszuprobieren. Es ist zu erwarten, dass TeilnehmerInnen viele wertvolle Impulse für ihre aktuellen und künftigen (womöglich disziplinenübergreifenden) Forschungsvorhaben bekommen und neue (internationale) Kooperationen eingehen. Dem wissenschaftlichen Nachwuchs stehen erfahrene Forsche­rInnen auf den Gebieten der Variations- und Textlinguistik mit Rat und Tat zur Seite.